An einem tristen Sonntag im Februar fuhren meine Frau, unser sechsjähriger Sohn und ich in die nahegelegene Kreisstadt. Wann immer wir dorthin kommen, gibt es für uns einen Pflichtbesuch: Das Schaufenster eines Geschäfts für Modellbahnen, denn Nilo liebt Eisenbahnen, egal ob als Modell oder ausgewachsenes Transportmittel.
Vor einiger Zeit war der Laden einmal ein großes Spielwarengeschäft gewesen, doch vor gut zehn Jahren hatte sich sein Inhaber entschlossen, dass so etwas nicht mehr zeitgemäß sei. Seitdem konzentrierte er sich ausschließlich auf den Verkauf von Modelleisenbahnen. Ich vermute, dass dies das Steckenpferd des Mannes sein könnte.
Während wir bei diesem Besuch in Richtung des Geschäfts spazierten, sah ich es schon von weitem. Im Schaufenster hingen Plakate mit neonroter Beschriftung, die über den anstehenden Räumungsverkauf informierten. Aus dem Internet erfuhr ich später, dass der Besitzer mit Mitte siebzig einfach genug hatte und seinen verdienten Ruhestand genießen wollte.
Mein Sohn war unglaublich traurig und verstand die Welt nicht mehr. Wir erklärten ihm behutsam, dass man ja nicht nur zum Spaß ein Geschäft betreibt, sondern auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle spielen. Letztlich konnte er einsehen, dass der Besitzer einfach zu alt geworden war. Unser kleiner Mann sah mich mit großen Augen an und sagte: „Wenn ich doch nur größer wäre, dann würde ich den Laden übernehmen!“
Auf der Heimfahrt sprachen wir noch etwas über die Sache, als meine Frau von einem Bekannten berichtete. Der Mann war einst Schaffner bei der Deutschen Bundesbahn gewesen, bevor diese privatisiert worden war. Auch in seiner Freizeit waren Eisenbahnen seine große Leidenschaft. In seinem Keller hatte er eine riesige Modelleisenbahnlandschaft aufgebaut, die sein ganzer Stolz war. Als die Pensionierung kam, nahm er seine Uniform, Tasche, Fahrpläne, Pfeife und Signallampe mit und dekorierte damit sein Reich im Keller.
Mit der Zeit kamen bei dem ehemaligen Schaffner die Zipperlein und irgendwann schlug das Schicksal in Form eines Schlaganfalls zu. Letztlich kam er wieder auf die Beine, doch der Gang über die Kellertreppe in den Keller wurde erst zur Tortur und schließlich zur Unmöglichkeit. Schnell wurde klar, dass die Modelleisenbahn keinen Sinn mehr machte und besser verkauft werden sollte. Es fand sich glücklicherweise ein Sammler, der die ganze Anlage zu einem guten Preis kaufte. Es gab nur eine Ausnahme: Die Lieblingseisenbahn. Damit der Besitzer sich daran erfreuen konnte, fand sie künftig ihren Ehrenplatz auf einem Türrahmen im Wohnzimmer.
Während meine Frau diese kleine Geschichte erzählte, wurde es still im Auto. Unser Sohn und ich hörten gebannt zu, denn die Erzählerin mochte den ehemaligen Schaffner und dessen Familie sehr und das konnte man ihrem Vortrag deutlich anmerken. Nach einer gewissen Zeit wurde sie still. Ich sah sie kurz an und fragte, ob der Mann wohl noch leben würde. Sie zuckte mit den Schultern, denn der Kontakt war, bedingt durch einen Umzug, schon lange abgerissen. Leichte Melancholie breitete sich aus. Doch von Niedergeschlagenheit wollte unser Sohnemann gar nichts wissen, die Schilderung des alten Schaffners hatte ihn begeistert und er war begierig, noch mehr über ihn zu erfahren.
Kurz bevor wir auf die Autobahn fuhren, wusste unser Sechsjähriger genug und sah verträumt aus dem Fenster. Meine Frau lächelt unvermittelt. „Ist das nicht merkwürdig?“, fragte sie. Ich sah sie fragend an. „Egal ob der der alte Schaffner wirklich noch lebt, er wird nicht vergessen werden“, erklärte sie und wies mit ihrem Kopf auf Junior. Sie hatte natürlich recht und ich war fasziniert. Der alte Schaffner war zu einem Narrativ, also einer Geschichte geworden. Sie würde fortan im kleinen Eisenbahnfan auf dem Rücksitz weiter existieren und zu einem Teil von ihm werden und das war gut so. Was wären wir schließlich ohne unsere Märchen, Mythen und Erzählungen?
Welche Fragen beschäftigen Sie und welche Geschichte erzählen Sie über sich selbst? Vereinbaren Sie noch heute einen Termin für ein Coaching in Hennef, einen Videochat, oder ein Telefonat. Ihre Geschichte ist wichtig, deshalb lassen Sie uns in einem Coaching darüber nachdenken.
Terminvereinbarung: info@dergedankencoach.de
Ich freue mich auf Sie!